Dienstag, 26.05.2020

Ein Dienstag Ende Mai
3.30 Uhr
Was ist denn los mit mir? Warum schlafe ich nicht wieder ein? Es ist ja noch nicht einmal hell.
Ich wechsle auf die Couch, nachdem ich die Balkontür weit aufgerissen habe. Das fühlt sich gut an.
So viel Zeit zum Lesen zu haben, fühlt ich auch gut an.
6.00 Uhr
Der Wecker quasselt mich voll. Hej, ich weiß doch, dass es 6.00 Uhr ist.
Ich versuche, den Sohn zu wecken, was mir im ersten Anlauf nicht wirklich gelingt.
Inzwischen packe ich meine Tasche. Strickzeug muss mit, Buch sowieso. Und ich darf die Wurst nicht vergessen, die ich extra für das Frühstück bei Mutti bei einem der Lieblingsfleischer besorgt habe. Kein Problem, der Sohn, der nun auch aus dem Bett gefunden hat, erinnert mich noch einmal.
7.03 Uhr
Ich bin gerade auf dem Rückweg von B-dorf, als die kleine Frau anruft.
Ich bin schon unterwegs zu dir, tröste ich sie. Sie ist aufgeregt. Natürlich.
Als ich bei ihr ankomme, um schön mit ihr zu frühstücken, hat sie schon ihren Kaffee ausgetrunken und ein viertel Brötchen gegessen. Mehr bekommt sie sowieso nicht hinter, meint sie. Warum war ich denn extra beim Fleischer?
Ich rede auf sie ein, bettle, dass sie noch was isst. Sie bleibt starrsinnig, was ich bis zu einem gewissen Grad verstehen kann. Sie hat Angst vor der Zahn-OP. Viel mehr, als sie zugeben will. Da hilft es auch nichts, dass der Arzt gesagt hat, sie soll ordentlich frühstücken, weil sie danach lange nicht essen darf und vermutlich auch gar nicht kann. Ich will sie nicht quälen, vergewissere mich aber, dass sie Traubenzucker einstecken hat und nehme ihr das Versprechen ab, beim geringsten Anzeichen von Übelkeit, diesen einzunehmen.
8.15 Uhr
Es ist soweit. Wir starten in Richtung Gesichtschirurie. Vor der Haustür könnte ich sie absetzen, aber sie will noch mit zum Parkplatz, damit sie nachher das Auto wiederfindet.
Soll ich noch mitkommen, bis zur Haustür?
Ja, bitte!
Ach Mensch, die kleine Frau! Ich drücke sie zum Abschied, obwohl wir das ja nicht dürfen. Das ist mir in dem Moment egal, weil ihr die Umarmung gut tut und sie die einfach braucht.

Mein Parkplatz ist idyllisch. Ich lasse die Tür offen, genieße die frische Morgenluft und beginne zu lesen.
Der Kollege XYZ ruft an. Er hat mehrere Anliegen. Ob ich am Donnerstag für eine Teilnehmerin eine Prüfungsbesprechung durchführen kann. Sie hat darum gebeten, dass ich das mache. Ich kann ihm nicht zusagen, weil ich noch nicht weiß, wann Mutti wieder zum Zahnarzt muss. Er erzählt mir noch, dass ich seine Urlaubsvertretung nicht machen darf. Der Chef hat diese an einen Kollegen an einem Standort in Thüringen übergeben, der von unseren Teilnehmern noch nie gehört hat, die ihm völlig fremd sind. Kann man doch machen. Ist doch sowieso alles virtuell! Freilich kann man das machen, wenn einem die Teilnehmer völlig egal sind, wenn man nur die Dollarzeichen in den Augen hat und es einem auch Wurscht ist, ob die Leute sich vielleicht bei ihren Vermittlern von JobCenter und ArbeitsAgentur darüber beschweren, wie sie hier behandelt wurden. Wie gut, dass es Corona gibt. Dahinter kann man sich gut verstecken. Das taugt als Ablenkung von eigenem Fehlverhalten. Als ich sage, dass ich nie in die Leipziger Filiale zurückkomme, reagiert der Kollege entsetzt: "Du willst wohl gar nicht?"
"Das steht doch gar nicht zu Debatte, was ich will. Du siehst doch, dass er mich nicht zurück holt. Nicht jetzt, als deine Urlaubsvertretung, und auch nicht später. Die Handvoll Teilnehmer, die er vielleicht später hat, verteilt er auf die Festangestellten, zur Not an anderen Standorten. Eine Dozentin ranzuholen, und sei sie noch so gut, wird er sich nicht mehr leisten. Es geht doch auch so."
Der Kollege ist frustriert, weil er weiß, dass der Chef genauso tickt, wie ich es beschrieben habe. Und weil er weiß, der er einer von denen ist, auf dessen Schultern die Mehrareit abgeladen wird.
Das Gespräch hinterlässt auch bei mir ein seltsam ungutes Gefühl.

10.00 Uhr
Wo bleibt denn die kleine Frau? Eine Viertelstunde warte ich noch, dann gehe ich mal da rüber und frage nach. Vielleicht hat sie die Betäubung nicht vertragen und man will sie ohne Begleitung nicht gehen lassen.
10.15 Uhr
Ich schwinge gerade die Beine aus dem Auto, da kommt sie kleine Frau über den Grünstreifen gestolpert.
"Wie spät ist es denn?"
… Da ist das arme Ding eine halbe Stunde herum geirrt und hat das Auto nicht wiedergefunden.
Wir finden heraus, dass sie an einem anderen Übergang die Straße überquert hat, als auf dem Hinweg. Ach, ach. Aber nun ist sie ja wieder da. Ihr Gesicht ist ganz schief und sie sieht ulkig aus, besonders, wenn sie versucht zu sprechen. Wir albern darüber herum. Immerhin geht das schon wieder. Weil sie froh ist, dass sie es hinter sich hat.
Ich setze sie zu Hause ab. Sie will sich hinlegen. Ist vielleicht das Beste.
15.30 Uhr
Ich hole den Sohn ab und wir gehen gemeinsam nach der Oma schauen. Die beiden trinken Kaffee und essen Kuchen. Ich möchte keins von beidem.
Abends
Ich habe noch Bürokram für den Sohnzu erledigen. Außerdem will ich noch Haare waschen und mich überhaupt ein wenig um mich kümmern. Zum Glück ist niemand da, der bemerkt, dass ich grillig bin. Naja, wahrscheinlich bin ich einfach bissel aufgregt wegen morgen. Auch wenn ich die Gegebenheiten schon kenne und ein wenig auch die neue Chefin, war ich doch ein Jahr lang nicht mehr dort und weiß nicht 100%ig, was mich erwartet.

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