02. Dezember 2020

So war es all die Jahre gewesen, doch in diesem Jahr war alles anders geworden.
Die herrische Königin Merle von Herrschaftshausen regierte das Land schon seit sehr langer Zeit und war dabei immer verbitterter geworden. Gelächelt hatte sie schon seit mehreren Jahren nicht mehr und herzlich lachen hatte sie wohl noch niemals jemand gesehen. Die Menschen im Land munkelten zuweilen, woran das wohl liegen mochte. Viele meinten, sie sei unglücklich, weil sich nie ein Prinzgemahl für sie gefunden hatte. Dabei wünschte sich Königin Merle nichts sehnlicher, als gemocht zu werden. Deshalb verschenkte sie große Summen aus dem königlichen Schatz an fremde Herrscher. Zuweilen rief sie auch viele Fremde ins Land und beschenkte sie reichlich, damit sie blieben und nicht wieder fortzogen. Sie erhoffte sich, mit diesen Menschen Untertanen zu bekommen, die sie liebten, für das, was sie für sie tat. Bei ihrem eigenen Volk stieß ihr Verhalten immer häufiger auf Unverständnis, schließlich war es ebendieses Volk, das den königlichen Schatz mit seinem Fleiß und seinen Abgaben mehrte. Die am Anfang noch vorhandene Zuneigung der Bevölkerung zu ihrer Königin schwand zusehends und mancherorts regte sich offene Ablehnung. So kam es, dass Merle begann, um ihre Macht zu fürchten. Um dem entgegenzuwirken und ihr Volk besser unter Kontrolle zu halten, hatte sie neue Gesetze erlassen, die den Menschen immer mehr Zwänge auferlegten und ihnen nahezu alles verbot, wodurch das Leben der schwer arbeitenden Leute schöner und glücklicher hätte werden können. Wenn sie selbst nicht glücklich werden konnte, sollte es auch das Volk nicht sein.
Volksfeste, Jahr- und sogar Wochenmärkte wurden verboten. Schänken und Herbergen wurden geschlossen und den Menschen wurde verboten, umher zu reisen oder sich gegenseitig zu besuchen. Vergnügungen aller Art wurden untersagt. Damit sich die Menschen auch an all diese Verbote hielten, setzte die Königin die Gendarmerie und teilweise sogar die Miliz ein.
Der fahrenden Händlerin Mira konnten freilich weder Gendarmen noch Miliz etwas anhaben. Schließlich reiste sie nicht zu ihrem Vergnügen, sondern um die Menschen in Nah und Fern mit ihren Waren zu versorgen. Da die meisten Märkte geschlossen waren, wurde der Handel von Tür zu Tür immer wichtiger und notwendiger. Auch konnte niemand von ihr verlangen, dass sie ihren Wagen stehen ließ und zu Hause blieb, denn der Planwagen war ihr zu Hause. Sie hatte kein anderes. Und das Eselchen, das den Wagen zog, war oft ihre einzige Gesellschaft.
Seit dem Frühsommer war sie zuweilen zu einem Gehöft aufgebrochen, wo ein Schäfer, den sie schon viele Jahre kannte, die Wolle der letzten Schur in einer alten Scheune aufbewahren durfte. Jedes Mal, wenn Mira dorthin kam, belud sie den Wagen bis unter die Plane mit Wollfasern. Dann zog sie sich in die Wälder zurück, spann die Wolle zu Garn und fertigte daraus wärmende Mützen, Schals oder Handschuhe für den Winter. Auch Pullover oder Socken und was man sich sonst noch an wärmender Kleidung vorstellen konnte. War die Wolle aufgebraucht und der Wagen stattdessen voll mit fertigen Erzeugnissen, fuhr Mira wieder zu dem Gehöft, verstaute ihre Waren in der Scheune in einer riesigen Truhe, gut versehen mit reichlich Lavendel, der die Motten fern hielt und belud ihren Wagen wieder mit Rohwolle. Dann begann der Kreislauf von vorn, indem sie sich wieder in die Einsamkeit zurückzog. Einmal war sie sogar am Meer gewesen, um an menschenleeren Stränden im Schatten duftender Wildrosenhecken ihrer Arbeit nachzugehen.
Als der Herbst die Blätter bunt färbte und die Nächte länger, die Tage kühler wurden, kehrte die Spinnerin zu dem Gehöft zurück, um ihre Waren aus der Truhe zu holen. Zum Dank für den Lagerplatz in der Scheune, durfte der Bauer für sich und seine Familie wärmende Kleidung aus Miras Bestand aussuchen. Dann machte die Marktfrau sich auf den Weg zu ihren Kunden, die sie dieses Jahr nicht auf den Märkten antreffen konnte. Viele zusätzliche Wege musste sie auf sich nehmen, weil mancher ein schönes Stück in einer anderen Farbe oder in einer anderen Größe haben wollte und Mira es erst aus der Truhe auf dem Bauernhof holen musste. Manchen Abend saß sie noch in ihrem Planwagen beim Licht zweier Laternen und fertigte die eine oder andere Bestellung extra an. Beschwerlich war die Arbeit der Händlerin in diesem Herbst, doch sie behielt ihren Mut und ihre Freude an der Arbeit, denn sie hatte ihr Auskommen. Und im Gegensatz zu vielen anderen, durfte sie unterwegs sein und andere Menschen zumindest vor deren Haustür treffen, auch wenn sich die Gespräche immer nur um die Ware und künftige Bestellungen drehten.
Als der Winter ins Land zog, wurde Miras Arbeit noch beschwerlicher, gleichzeitig wuchs die Sehnsucht der Menschen nach Wärme, nicht nur nach der, die durch Miras handgefertigte Kleidung entstand, sondern nach menschlicher Wärme und Nähe. So kamen die Menschen auf allerlei Ideen, trotz der vielen Verbote ein halbwegs angenehmes Leben aufrecht zu erhalten.
Einmal, als Mira ihr Tagwerk verrichtet hatte und unterwegs war zu einem Unterstand, wo sie mit ihrem Wagen und dem Eselchen Schutz vor Sturm und eisigem Regen finden wollte, traf sie einen Gastwirt, bei dem sie sich früher nach getaner Arbeit gern an einer heißen Suppe gelabt hatte. Er war mit einem Leiterwagen voller Kisten und Kästen unterwegs und hielt an, als er die Händlerin erkannte.
"Wohin des Wegs, Mira? " wollte er wissen.
"Zum Unterstand am alten Handelsweg, und du, Rosenwirt? Was treibt dich um bei diesem Wetter?"
"Hab Suppe gekocht. Gemüse auch. Und ein paar gute Stücke Fleisch gebraten. Nun habe ich alles in die Kisten gestellt, damit es mir unterwegs nicht umkippt und hab es gut ausgepolstert, auf dass es nicht kalt werde. Das bringe ich nun zu den Leuten im Dorf. Müssen schließlich was Gutes essen in dieser hässlichen Zeit. "
" Ideen hast du!" Mira schmunzelte.
"Du weißt doch, wie man sagt: Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt…"
"…muss eben der Berg zum Propheten! " lachte Mira. "Sag, sind die Portionen abgezählt, oder hast du vielleicht noch etwas Suppe für mich? "
Noch während sie fragte, hob der Rosenwirt einen fest zugeschraubten Becher aus einer der Kisten und hielt ihn der Marktfrau entgegen. Der Becher war warm, die Suppe darin sicher noch heiß. Mira stellte ihn zwischen die Wolle, damit er nicht auskühlte.
"Geht aufs Haus", sagte der Wirt. "Den Becher bringst du zurück, wenn du wiedermal in der Nähe bist. "
Mira freute sich sehr über diese Gabe und bedankte sich herzlich. Dann zogen beide wieder ihrer Wege. Als sie wenig später den Unterstand erreichte, versorgte sie zuerst das Eselchen und richtete sich in ihrem Planwagen gemütlich ein. Dann ließ sie sich die Suppe schmecken. Dabei wurde ihr ganz warm, nicht nur im Magen, sondern ganz besonders warm wurde ihr ums Herz. Wenn die Menschen sich auch seltener begegneten, rückten sie doch in ihren Herzen näher zusammen. An diesem Abend schlief die Händlerin mit einem Lächeln auf den Lippen ein und schlief auch ganz besonders gut in dieser Nacht.

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