01. Dezember 2020

Erinnert ihr euch noch an Mira Wunder? Jene Händlerin, die mit ihrem Eselkarren von Stadt zu Stadt, von Markt zu Markt zog, sich an ihrem Marktstand ans Spinnrad setzte und Geschichten aus aller Welt erzählte?
Einst hatte sie an einem Vierten Advent mitten im Schneegestöber an einer Tür geklopft, weil sie noch ein Paar warme Socken oder einen kuscheligen handgestrickten Schal an den Käufer bringen wollte. Der Mann, der ihr die Tür öffnete, war jedoch der wortkarge Schreinermeister Mahlow, der ihr ein wenig unwirsch zu verstehen gab, dass er nichts kaufen wollte. Da aber in diesem Moment der Schneesturm gerade in einer besonders heftigen Böe zur Tür herein wehte, hatte er die Händlerin herein gebeten, auf einen Becher Würzwein. Aha, da hatte sie ihn wohl bei einem besinnlichen Abend vor dem Kamin gestört. Einen Moment hatte sie gezögert und noch einen geschützten Platz für ihr Eselchen erbeten. Dann war sie in des Schreiners gute Stube eingetreten.
Dort stand in einer Ecke ein Spinnrad. Es war schon ein wenig verstaubt, weil es seit dem Frühherbst dort stand. Trotz der Staubschicht konnte man erkennen, dass es ein ganz besonders schönes Stück war, mit einer außergewöhnlich schönen Maserung. Diese Maserung des Holzes war der Grund, weshalb der Schreinermeister überhaupt ein Spinnrad gebaut hatte, das er selbst gar nicht benutzen konnte, aber auch unter keinen Umständen verkaufen wollte.
Das Holz stammte von einem uralten Baum, in dessen Geäst sich Jahr für Jahr der Wirbelwind verfangen hatte. Dieser hatte dem Baum von seinen Reisen um die Welt erzählt und aus aller Herren Ländern Geschichten mitgebracht. Offenbar waren all die Geschichten, auch nachdem der Baum gefällt worden war, in seinem Holz erhalten geblieben und hatten die besondere Maserung hervorgerufen. Für die Stühle des neuen Ratssaales in der Stadt hatte Schreiner Mahlow schlichteres Holz verwendet, weil er aus dem besonderen Holz des uralten Baumes auch etwas besonderes schaffen wollte. So war das Spinnrad entstanden.
Als nun die Mira das Schmuckstück entdeckte, holte sie es, ohne ihren Gastgeber zu fragen, aus der Ecke hervor, setzte sich auf das Bänkchen am Kamin, kramte aus ihrem Quersack, den sie mit herein gebracht hatte, eine Handvoll Wollfasern heraus und begann zu spinnen.
Kaum hatte das Rad begonnen sich zu drehen, vernahm sie einen feinen Gesang:
Ich bin aus gutem altem Holz,
darauf ist mein Erbauer stolz.
Und auch die holde Spinnerin
freut sich an mir, das ist der Sinn.
Und sitzt sie nach des Tages Hast
am Rad und hält ein wenig Rast,
dann dreh ich mich mit leisem Singen,
das Vlies zu feinem Garn zu spinnen
und denk der Zeit, die längst versank,
als mein Holz noch rank und schlank
als Baum sich in den Himmel hob,
der Wirbelwind darüber stob.
Der sang aus aller Welt Geschichten.
Von denen will ich nun berichten.
Drum höre, holde Spinnerin,
was ich, wenn ich mich dreh, Dir sing.
Vom Feen- und vom Zwergenvolk,
von schweren Truhen voller Gold,
von Geistern und von Spukgestalten,
von Recken, die Drachen im Zaume halten,
von Hans und Grete und der Hex,
von der Blume, die tief im Zauberwald wächst,
von Zaubern und Wundern und einem Traum,
der heranwuchs im Holz an meinem Baum.
Du sollst hören meine Märchen und Sagen
und sie wieder in die Welt hinaus tragen.

Nicht nur die Spinnerin selbst, auch der Schreiner hatte den Gesang vernommen. Weil das Rad der Spinnerin eindeutig den Auftrag gegeben hatte, die Geschichten in die Welt zu tragen und weil der Schreiner sich geschworen hatte, das Rad niemals zu verkaufen und ein bisschen auch, weil Weihnachten vor der Tür stand, hatte er es ihr geschenkt. So kam es, dass Mira Wunder mit dem Spinnrad um die Welt zog und Geschichten am Spinnrad erzählte.
Ein paar Jahre lang hatte der Schreiner in der Weihnachtszeit darauf gehofft, dass die Spinnerin wieder bei ihm anklopfen möge, was sie, nachdem die letzten Weihnachtsmärkte geschlossen hatten und es nichts mehr zu verkaufen gab, tatsächlich getan hatte. Auch die Nachbarn des Schreiners warteten auf ihre Ankunft und luden sich selbst in des Schreiners gute Stube ein, um den Geschichten der Spinnerin zu lauschen. Jedes Jahr waren es mehr Zuhörer geworden und am letzten Weihnachten hatte man sich gar im Gemeindesaal versammelt, weil nicht alle in die Stube des Schreiners hineingepasst hätten.
So war es all die Jahre gewesen, doch in diesem Jahr war alles anders…

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